Gedenkbuch für das Heim des Jüdischen Frauenbundes in Neu-Isenburg (1907 – 1942)

Das Heim

Am 25. November 1907 eröffnete der Jüdische Frauenbund in Neu-Isenburg das Heim „Isenburg“ für sozial entwurzelte jüdische Mädchen, für unverheiratete Schwangere und ledige Mütter mit ihren Kindern. Initiatorin und Leiterin der Einrichtung war die Frauenrechtlerin, Sozialpolitikerin und Sozialarbeiterin Bertha Pappenheim, eine der wichtigsten Persönlichkeiten der deutsch-jüdischen Frauenbewegung im frühen 20. Jahrhundert. Sie machte das Heim zu einem Ort der Zuflucht, der Erziehung und Ausbildung für jüdische Frauen und Kinder aus dem gesamten Deutschen Reich. Die Einrichtung war außerdem Ausbildungs- und Praktikumsstelle für Schülerinnen pflegerischer und hauswirtschaftlicher Berufe.

Das erste Heimgebäude lag in der Taunusstraße 9. In den ersten sechs Jahren nach der Gründung blieb „Isenburg“ baulich unverändert. Danach entwickelte sich das Heim in wenigen Jahren zu einem Komplex aus vier Häusern in einem großen Garten zwischen der Taunusstraße und der parallel zu ihr verlaufenden Zeppelinstraße. Die Erweiterung zwischen 1914 und 1918 resultierte vor allem aus den Ereignissen des Ersten Weltkriegs: Die Zahl der traumatisierten und verwaisten Minderjährigen wuchs dramatisch an. „Isenburg“ nahm jugendliche Flüchtlinge aus den Kriegsgebieten Osteuropas sowie notleidende Frauen und Kinder aus der Region auf. Das Gründungshaus in der Taunusstraße wurde weiterhin als Haupthaus (Haus I) mit Verwaltungsbüros, Wohnräumen für die Angestellten und der zentralen Küche genutzt. Dort waren außerdem die Schulkinder untergebracht. 1914 wurde zusätzlich für schwangere Frauen sowie für junge Mütter und ihre Kinder ein Neubau (Haus II) errichtet. Drei Jahre später kaufte der Jüdische Frauenbund das Nachbarhaus in der Taunusstraße 7 (Haus III) zur Unterbringung erziehungsbedürftiger und kriegstraumatisierter Schulkinder. Als Unterkunft für Praktikantinnen stiftete Bertha Pappenheim schließlich 1918 Haus IV in der Zeppelinstraße 6. Das Haus erhielt 1928 einen Anbau als Kranken- und Isolierstation.

Einige der Erwachsenen und Jugendlichen, die im Heim des Jüdischen Frauenbundes Zuflucht fanden, blieben nur wenige Tage, andere mehrere Jahre. Werdende Mütter kamen in der Regel in den letzten Monaten ihrer Schwangerschaft nach Neu-Isenburg, um sich hier auf die Geburt vorzubereiten. Sie brachten ihre Kinder im Frankfurter Israelitischen Krankenhaus in der Gagernstraße 36 zur Welt und betreuten sie anschließend einige Wochen lang im Heim „Isenburg“. Danach verließen entweder Mütter und Kinder das Heim gemeinsam oder die Frauen ließen ihre Neugeborenen in der Einrichtung zurück und gaben sie zur Pflege oder zur Adoption frei.

Die sozial gefährdeten weiblichen Jugendlichen, die in „Isenburg“ aufgenommen wurden, verbrachten im Durchschnitt ein Jahr in der Einrichtung. Sie lernten, sich in einen geregelten Tagesablauf einzufügen, Verantwortung zu übernehmen und sie wurden in koscherer Haushaltsführung unterrichtet. Nach dem Heimaufenthalt kehrten sie entweder nach Hause zurück oder wurden in eine Arbeitsstelle – meist als Haushaltskräfte – vermittelt. Die jungen Frauen fanden in Einrichtungen des Jüdischen Frauenbundes oder in Privathaushalten jüdischer Familien Arbeit und Unterkunft.

Die Praktikantinnen wurden sechs Monate oder ein Jahr lang ausgebildet. Ihre Zahl wuchs nach 1933 und noch einmal nach dem Novemberpogrom 1938 stark an, weil jüdische Mädchen aus staatlichen Fachschulen ausgeschlossen wurden und deshalb nur noch über jüdische Einrichtungen berufliche Qualifikationen sammeln konnten.

Die von ihren Eltern verlassenen Kinder wurden, soweit möglich, in Pflegefamilien oder zur Adoption vermittelt. Für viele aber blieb das Heim „Isenburg“ über mehrere Jahre ihr Zuhause. Jungen durften nur bis zum Alter von sechs Jahren in der Neu-Isenburger Einrichtung bleiben. Die Älteren wurden in andere Häuser verlegt, z. B. in die von Isidor Marx geleitete Israelitische Waisenanstalt im Frankfurter Röderbergweg 87. Während der NS-Zeit wurden Inlandsadoptionen oder die Vermittlung der Kinder in Pflegestellen immer schwieriger, so dass die Aufenthaltszeiten im Heim länger wurden. Manche der in „Isenburg“ lebenden Kinder und Jugendlichen fanden auch deshalb keine Pflegestellen, weil sie intellektuell vermindert leistungsfähig waren oder aus schwierigen sozialen Verhältnissen stammten und verhaltensauffällig waren.

Über den gesamten Zeitraum seines Bestehens von 1907 bis 1942 wurden im Heim „Isenburg“ etwa 1500 Menschen betreut oder ausgebildet. Bis zur Dreißig-Jahr-Feier im Herbst 1937 hatten 252 Schwangere und Mütter, 374 Säuglinge und Kleinkinder und 399 weibliche Jugendliche in der Einrichtung Aufnahme gefunden.

Verwendete Quellen und Literatur:

Akten des Stadtarchivs Neu-Isenburg 000-23

Heubach, Helga: Das Heim des Jüdischen Frauenbundes in Neu-Isenburg, 1907 bis 1942, hrsg. vom Magistrat der Stadt Neu-Isenburg, Neu-Isenburg 1986

Fogel, Heidi/Noemi Staszewski: Zum Leben und Wirken Bertha Pappenheims. Abdruck derTexttafeln aus der Dauerausstellung in der Seminar- und Gedenkstätte Bertha Pappenheim, hrsg. vom Magistrat der Stadt Neu-Isenburg 2006

Forchheimer, Stephanie: Jüdisch-soziale Frauenarbeit in Frankfurt a.M., in: Gemeindeblatt der Israelitischen Gemeinde Frankfurt am Main 6 (1927), Nr. 3 (November); S. 57 ff.

Klausmann, Christina: Politik und Kultur der Frauenbewegung im Kaiserreich. Das Beispiel Frankfurt am Main, Frankfurt am Main – New York (Campus) 1997, S. 157 ff.

Lustiger, Arno (Hrsg.): Jüdische Stiftungen in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1994 (Nachdruck der Ausgabe 1988), S. 163 f.