Bertha Pappenheim war eine der wichtigsten deutschsprachigen Frauenrechtlerinnen und Sozialreformerinnen im frühen 20. Jahrhundert. Bekannt wurde sie außerdem durch ihre psychische Erkrankung in jungen Jahren: Bertha Pappenheim ist „Frl. Anna 0.“, die Sigmund Freud zur Entwicklung der Psychoanalyse inspirierte.
Aufgewachsen in einer großbürgerlichen jüdischen Familie in Wien, zog Bertha Pappenheim nach dem Tod des Vaters 1888 mit ihrer Mutter nach Frankfurt. Hier streifte sie die Fesseln ab, die ihr das Leben als „höhere Tochter“ angelegt hatte, und fand ihre Lebensaufgabe: die politische und soziale Arbeit für Frauen und Mädchen.
Bertha Pappenheim schuf zu Frauenfragen ein beachtliches publizistisches und schriftstellerisches Werk. Der Schwerpunkt ihres Wirkens lag jedoch in der sozialen Praxis. In Frankfurt entwickelte sie eine Fülle sozialpolitischer Aktivitäten, arbeitete in der städtischen Kinder- und Jugendfürsorge und war an der Reform der Wohlfahrtspflege beteiligt. Sie engagierte sich für Verbesserungen im Jugendstrafrecht und für die Rechte lediger Mütter und unehelicher Kinder. Sowohl in der Jüdischen Gemeinde als auch in Staat und Gesellschaft trat sie entschieden für Frauenrechte und Frauenbildung ein.
1895 übernahm Bertha Pappenheim die Leitung des Mädchenwaisenhauses, das der Israelitische Frauenverein in Frankfurt unterhielt. Hier verwirklichte sie erstmals ihre Ideen von einer modernen jüdischen Mädchenerziehung. Sie sorgte für die Ausbildung ihrer Schützlinge, gab ihnen in familienähnlichen Gruppen Geborgenheit und bereitete sie auf das Leben als Frau in einer jüdischen Familie vor.
Ihre soziale Arbeit brachte Bertha Pappenheim mit Jüdinnen aus osteuropäischen Armutsgebieten in Berührung, die Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution geworden waren. Das Leid dieser Frauen beeindruckte sie so sehr, dass sie den Kampf gegen den Mädchenhandel zum zentralen Anliegen ihrer weiteren Arbeit machte. Sie reiste nach Galizien, Russland und auf den Balkan, um dort die wichtigsten Ursachen der Prostitution zu bekämpfen – mangelnde Bildung, rechtliche Benachteiligung und wirtschaftliche Not.
In Frankfurt gründete Bertha Pappenheim 1901 mit Henriette Fürth den Verein „Weibliche Fürsorge“. Dieser unterstützte alleinstehende Jüdinnen bei der Gründung einer selbständigen Existenz und wirkte so der Armutsprostitution entgegen. Zu den Einrichtungen des Vereins zählten bald ein Mädchenclub, eine Bahnhofshilfe, ein Wohnheim, Kindereinrichtungen, eine Berufsvermittlung und eine Rechtsberatungsstelle.
Auf Anregung von Bertha Pappenheim und der Hamburger Sozialpolitikerin Sidonie Werner wurde 1904 der Jüdische Frauenbund und 1917 die Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden ins Leben gerufen. Diese Dachverbände koordinierten reichsweit die Arbeit der deutschen jüdischen Frauenvereine bzw. Wohlfahrtseinrichtungen und trugen so entscheidend zu einer Professionalisierung der jüdischen Sozialarbeit bei.
Als Krönung ihres Lebenswerks betrachtete Bertha Pappenheim das von ihr 1907 in Neu-Isenburg eingerichtete Mädchenheim, in das sie sozial gefährdete jüdische Jugendliche, alleinstehende Schwangere und ledige Mütter aufnahm. Ihnen bot sie Schutz, Unterkunft und Ausbildung, eine familiennahe jüdische Gemeinschaft sowie Anleitung in der Führung eines jüdischen Haushalts und in der Kindererziehung. Die Einrichtung war in der starren Gesellschaft des Kaiserreichs, in der das Schicksal „gefallener Mädchen“ ignoriert und tabuisiert wurde, ein revolutionäres Projekt, das Bertha Pappenheim nicht nur Anerkennung, sondern auch Feindschaft eintrug. Sie konterte: „Totschweigen kann eine Todsünde sein.“
Bertha Pappenheim stand dem Heim bis zu ihrem Tod vor. Sie starb am 28. Mai 1936 in Neu-Isenburg. Ihre letzte Ruhe fand sie neben ihrer Mutter in Frankfurt auf dem Jüdischen Friedhof Rath-Beil-Straße.